Heute morgen heißt es früh aufstehen. Wir verlassen um 07:50 Uhr den Campingplatz in Maurvangen.
Trotz Campingverbot auf der Strecke nach Gjendesheim haben sich doch einige Wohnmobile und Camper zwischen den Fjellbirken häuslich eingerichtet. Nach 10 Minuten erreichen wir die Anlegestelle, wo wir auf dem Parkplatz am Seeufer den Wagen abstellen.
Das Wetter ist herrlich, etwas frisch - wir sind immerhin auf 995 m Höhe - aber sonnig. Die Luft ist klar und wir können die schneebedeckten Berggipfel, die den grünlich schimmernden See am anderen Ende überragen, deutlich ausmachen.
Am Horizont sehen wir einen Punkt auf dem Wasser - es muß das Boot nach Memurubu sein. Wir werfen einen oberflächlichen Blick auf die Hinweistafel mit dem Fahrplan - noch eine Stunde bis zur nächsten Überfahrt. Am Steg wartet schon eine lange Schlange von Wanderern. Wir wissen nicht wieviel Personen das Boot M/S Gjende befördern kann und hegen die Befürchtung, auch bei der nächsten Fahrt nicht mitzukommen.
Darum entschließen wir uns spontan, die Tour in der umgekehrten Richtung anzugehen. Wir können ja mit der letzten Fähre um 17:50 von Memurubu zurückfahren - denken wir!!
Neben der Gjendesheim-Hütte beginnt der breit ausgetretene Pfad. Zwangsläufig nehmen wir in Kauf, daß die Tour mit einem Steilhang anstatt mit einer gemütlichen Bootstour beginnt. Bereits nach den ersten 50 Höhenmetern lassen uns unsere Waden spüren, daß dies unsere erste Wanderung in diesem Urlaub ist.
Nach einer halben Stunde, wir befinden uns bereits im Nationalpark, zweigt rechts ein Pfad zur Hütte Russvassbu ab.
Wir legen hier eine Pause ein und entledigen uns der dicken Jacken. Tief unter uns liegt die Gjendebu-Hütte. Auf dem großen Parkplatz blinken die vielen Spielzeugautos in der Morgensonne und die 'M/S Gjende' tuckert gemächlich in Richtung Anlegestelle.
Wir wenden uns nach links hinauf zu dem fast senkrechten Felshang des Vesslefjellet. An einem Schneefeld überholen uns zwei sportliche Finnen mit leichtem Gepäck. Ein Felsband führt uns am Hang entlang zu einem kleinen Bergbach, den wir überqueren müssen. Wir haben das Plateau des Vesslefjellet erreicht.
Mäßig ansteigend führt uns der Pfad in westlicher Richtung über schwärzliches Gabbrogestein. Nur ein Wanderer ist noch hinter uns zu sehen. Je mehr wir uns dem Scheitelpunkt des breiten Pfades nähern um so grandioser wird die Aussicht auf die mit Schneefeldern und Gletschern bedeckte Bergwelt von Zentral-Jotunheimen. Wir sind jetzt froh, uns für diese Richtung entschieden zu haben. Die fantastische Aussicht liegt so immer im Blickfeld.
Kurz vor dem 1743 m hohen Gipfel kommen uns die ersten zwei Wanderer entgegen. Verwundert fragen wir, ob sie schon von dem ersten Boot seien. Zeitlich dürfte das nämlich kaum hinkommen. Doch sie erzählen uns, sie hätten in Memurubu übernachtet und seien von dort frühzeitig aufgebrochen.
Auf dem Gipfel des Veslefjell steht ein großer Steinhaufen, dem von Wanderern immmer wieder Steine zugefügt werden. Von der Größe der Pyramide kann man Rückschlüsse auf die Anzahl der Wanderer schließen. Wir legen hier ein längere Rast ein, genießen die herrliche Rundumsicht, schießen ein paar Fotos und Mechtild denkt schon mit etwas Sorge an den Abstieg über den Grat. Obwohl die Sonne vom blauen Himmel strahlt, ist es durch den stetig wehenden Wind angenehm frisch. Wir crémen uns gut ein, um einem Sonnenbrand vorzubeugen.
Leicht abwärts führt der Pfad über Geröllfelder zum Beginn des eigentlichen Besseggengrates. Südlich zum Gjende fallen die Felsen 600 m fast senkrecht ab, während es zum dunkelblauen Bessvatnet, der nördlich des Grates liegt, nur knapp über 200 m sind.
Hier wird es auf einmal belebter. Es sind Wanderer vom ersten Boot. Öfters müssen wir zur Seite treten, um ganze Familien mit Kind und Kegel vorbeizulassen. Der Grat ist breiter, als wir gedacht haben, doch ab und zu geht es ziemlich nah am Abgrund vorbei. Durch den dauernden Blick nach unten ist dies für nicht ganz Schwindelfreie der schwierigste Part der Tour. Bei ein paar höheren Felsstufen nehmen wir die Hände zu Hilfe, ansonsten verläuft der Abstieg problemlos.
Wenn hier laut der norwegischen Sage Peer Gynt abgestürzt ist, kann es nur an dem störrischen Renbock gelegen haben.
Der Grat läuft in dem sogenannten Bandet aus, dem Felsband, das den Bessvatnet vom 400 tieferen Gjende trennt. Kein Wunder, daß Wasserkraftexperten damit liebäugelten, das Felsband wegzusprengen und den See Bessvatnet in den Gjende-See stürzen zu lassen. Die Schaffung des Nationalparks bewahrte diese grandiose Landschaft.
Am Ende des Bandet legen wir am Ufer des Bessvatnet noch einmal ein Pause ein. Rückblickend können wir unsere gesamte Abstiegsstrecke noch einmal überblicken. Auf dem Pfad geht es immer reger zu. Wie eine Karawane zieht sich der Strom der Wanderer den Felsgrat hinauf.
Indes stellen wir fest, daß hier oben außer verschiedenen Flechtenarten auch noch andere Pflanzen gedeihen, wie die Pechnelke, der Gletscherhahnenfuß und die Krähenbeere.
Fast die Hälfte der Strecke liegt noch vor uns. Nach unserer Rast geht es sofort wieder einen steilen Hangausläufer der 2258 m hohen Besshø hinauf. Die Beine werden uns schwerer. Von oben bietet sich uns ein herrlicher Rückblick auf den Besseggen. Kurze Zeit später überqueren wir ein kleines Schneefeld und danach einen breit gefächerten aber nicht tiefen Bergbach. Der kleine See Bjørnbøltjørna glitzert vor uns in der Sonne. An seinem Südufer entlang führt der Pfad weiter auf eine flache Hochebene. Von hier sehen wir den in einem Talkessel liegenden See Øvre Leirungen.
Allmählich absteigend öffnet sich plötzlich der Blick auf das tief unten liegende Memurubu. Gut zu sehen ist, wie der Fluß Memuru mit Moränenmaterial angereichetes Gletscherwasser weit in den See ergießt.
Um 17:50 Uhr soll das letzte Boot zurückfahren. Bis dahin sind es noch 35 Minuten. Wir legen einen Schritt zu und hasten den etwas rutschigen Hang hinunter. Büsche und Fjellbirken säumen jetzt den Pfad, der sich in südlicher Richtung ins Tal schlängelt.
Endlich erreichen wir die Hütten von Memurubu und eilen zum See hinunter. An der Bootsanlegestelle liegen unbeaufsichtigt dutzende von Rucksäcken. Ein Glück, wir sind noch nicht zu spät. Nachdem wir 15 Minuten gewartet haben, überkommt uns ein ungutes Gefühl, das Boot müßte schon lange zu sehen sein. Als dann nach und nach die Rücksäcke von Jugendlichen abgeholt werden, ahnen wir das Schlimmste. Bei einer Bedienung in der Hütte bekommen wir dann die erschütternde Auskunft, daß zwar täglich das letzte Boot um 17:50 Uhr nach Gjendesheim zurückfährt, nur mittwochs nicht. Die nächste unerfreuliche Auskunft folgt auf dem Fuße. Die Hütten sind für diese Nacht alle belegt.
Es dauert lange bis wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, den dreieinhalbstündigen Rückweg am See entlang zu gehen. Aber wir haben keine andere Wahl. Kurz nach 19:00 Uhr brechen wir auf.
Der Pfad ist zu Beginn dicht bewachsen, holprig und schlängelt sich um ein paar Buchten. An einigen Stellen steigt er steil an und führt über Felsbänder und Geröllfelder hoch über dem Wasserspiegel am Ufer entlang. Für unsere müden Füße ist er anstrengender, als wir gedacht haben. Die Berghänge am südlichen Ufer liegen zu Beginn noch voll in der Sonne, aber als wir Gjendesheim endlich erreichen, ist es fast Mitternacht.
Todmüde fallen wir in unsere Schlafsäcke.
Für morgen steht ein geruhsamer Besuch der Ortschaft Lom auf dem Programm.